Digitale Selbstvermessung: Was bringen Apps und Fitness-Tracker?

8.396 Schritte sind Sie heute gelaufen. Fast am Ziel, weiter so! Dafür haben Sie 72 Stressreaktionen gezeigt und 85 Gramm Zucker zu sich genommen – zu viel! Und Achtung: Ihre Nacht war nur zu 47 Prozent effizient, brauchen Sie Tipps zum besseren Durchschlafen? Die Ratschläge kommen weder von einem Arzt noch meldet sich hier das Gewissen. Es ist das Smartphone. Digitale Daten über den eigenen Körper zu erheben oder seinen Alltag mit selbst erhobenen Zahlen zu analysieren – das nennt man digitale Selbstvermessung. Angefacht wurde der Trend mit der 2007 in den USA entstandenen Quantified-Self-(QS)-Bewegung. Damals noch als kurioses Hobby von Technikfreaks belächelt, ist die Vermessung des Selbst alltagstauglich geworden – dank immer kleinerer und leistungsfähigerer Hardware, ausgeklügelter Algorithmen und Online-Anbindung.

Wie funktioniert digitale Selbstvermessung?

Wie gesagt: Dafür reicht bereits ein Smartphone. Oder man trägt ein Wearable am Körper, also einen Minicomputer, der sich oft als Fitness-Armband tarnt. Wearables gibt es aber auch in Form von Uhren, Brillen und Schmuck. Dank winziger Sensoren besitzen Smartphones und Wearables einen ausgefeilten Spürsinn. Je nach Gerät und Modell zeichnen die Sensoren Bewegungen, erklommene Stufen und Laufdistanzen auf, messen Körpertemperatur, Herzfrequenz und Puls. Mit solchen Daten wiederum lassen sich Stresslevel, Schlafqualität und Kalorienverbrauch berechnen. EKGs aufzeichnen, Hirnströme und Blutdruck messen – auch das ist mit der neuen Gerätegeneration möglich.

Mädchen steht auf einer Wiese mit Bergblick und misst ihren Puls auf einem Fitness-Armband.
Dieses Fitness-Armband ist ein intelligenter Minicomputer, der unter anderem Puls und Sauerstoffsättigung messen kann.

Die gemessenen Daten werden nicht nur bei Smartphones, sondern auch bei Wearables in der Regel auf eine App gesendet und ausgewertet: In Form von Diagrammen und Statistiken; etliche Anwendungen geben Handlungsempfehlungen oder erstellen individuelle Ernährungs- und Fitnesspläne.

Allen voran: Gesundheits-Apps auf dem Smartphone

Wearables sind zwar auch gefragt – 2019 wurden allein in Deutschland 5,6 Millionen davon verkauft. Am beliebtesten sind jedoch Gesundheits-Apps auf dem Smartphone. Laut IT-Branchenverband Bitkom hatte 2017 hierzulande fast jeder zweite Smartphone-Nutzer Gesundheits-Apps installiert. Im gleichen Jahr wurden weltweit rund 325.000 Fitness- und Gesundheits-Apps mit geschätzten 3,7 Mrd. Downloads registriert. Etwa ein Viertel dieser Apps ist auf das Management und die Behandlung von Krankheiten ausgerichtet. Der große Rest lässt sich dem Bereich Lifestyle/Fitness zuordnen. Und hier gibt es nicht nur Apps, die Vitaldaten mithilfe von Sensoren checken, sondern eine ganze Reihe von Anwendungen, die mit selbst eingegeben Nutzerdaten arbeiten. Mit solchen Apps lässt sich zum Beispiel der Menstruationszyklus beobachten, der eigene Gemütszustand in einem Stimmungsbarometer darstellen und die Kalorien auf dem Teller zählen.

Hilfreich für chronisch Kranke: Gesundheits-Apps

2017 hat Bitkom Research Smartphone-Nutzer befragt, warum sie Gesundheits-Apps verwenden. Drei von vier Nutzern gaben an, ihre Gesundheit generell verbessern zu wollen. Doch wissenschaftliche Belege, ob ein vermeintlich nur unfitter Mensch mit Selftracking gesünder wird, fehlen bisher. Allerdings legen einige Studien nahe, dass sich bestimmte Krankheitsverläufe mit QS positiv beeinflussen lassen. Die Studie „Quantified Self – Schnittstelle zwischen Lifestyle und Medizin“ berichtet etwa von Gesundheits-Apps, die Depressionen reduzieren konnten.

Unumstritten ist, dass Selbstvermessungstechnologien chronisch Kranke dabei unterstützen können, besser mit ihrer Krankheit im Alltag umzugehen. Es gibt zum Beispiel Apps, mit denen Diabetiker und Asthmatiker ihre Werte dokumentieren und den Verlauf ihrer Krankheit überwachen können sowie Migräne-Apps, die helfen, Zusammenhänge zu erkennen und Migräneanfälle zu vermeiden.

Insgesamt hat QS ein großes Potenzial in der medizinischen Versorgung. Teilt man seine selbst erhobenen Daten mit dem behandelnden Arzt, kann der die Therapie besser steuern und individueller gestalten. Bei ungeklärten Krankheiten können Self-Tracking-Daten die Diagnose erleichtern.

Eine Ärztin bespricht mit ihrer Patientin medizinische Werte.
Von Wearables und Smartphones gemessene Daten können bei medizinischen Untersuchungen vielleicht Licht ins Dunkel bringen.

Auch die Forschung könnte von der gigantischen Menge an Daten aus dem realen Lebenskontext von Selftrackern profitieren. Damit ließe sich etwa die Wirksamkeit von Therapien erforschen und gesundheitsrelevante Muster in der Bevölkerung aufdecken. Vorausgesetzt, viele Menschen stellen ihre Daten zur Verfügung. Hier setzt unter anderem die Nonprofit-Genossenschaft MIDATA mit ihrer Datenplattform an, auf der freiwillige Datenspender Zugriff auf ihre Daten für medizinische Forschung gewähren.

Was bringt die digitale Selbstvermessung gesunden Menschen?

Für Sportler sind Fitness-Tracker und Co. nützliche Begleiter, die dabei helfen, sich im optimalen Trainingsbereich zu bewegen und bessere Trainingserfolge zu erzielen. Doch was bringt die digitale Selbstvermessung für das Wohlbefinden, wenn man keinen Marathon anpeilt und beschwerdefrei ist?

Selbsterkenntnis

In erster Linie bringt die Selbstvermessung Wissen über sich selbst. Das klingt banal. Doch unsere Selbsteinschätzung ist oftmals trügerisch (“Ich ernähre mich doch gut“). Wer sich eine Zeitlang vermisst, kann sich problematischen Verhalten und Risiken eher bewusstwerden.

Verhaltensänderungen durch digitale Selbstvermessung

Auch wenn man schon längst weiß, dass man ein wenig abspecken sollte: Mithilfe von Apps und Trackern gelingt der Sprung vom Wissen zur Verhaltensänderung leichter. Denn mit ihnen lassen sich realistische Ziele setzen und Fortschritte verfolgen. Vor allem motivieren sie dazu, dran zu bleiben. Mit Pieptönen oder Anzeigen erinnern sie daran, das Tagespensum an Bewegung zu erreichen oder bei der letzten Mahlzeit noch mal den Kohlenhydratanteil herunterzuschrauben. Wer es schafft, wird mit Smileys und viel Lob belohnt. Das könnte zum Erfolg führen: Die Studie „Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps“ (CHARISMHA) verweist dazu auf einzelne Untersuchungen, in denen App-Anwender körperlich aktiver waren, mehr abnahmen und besser bei der Ernährungsumstellung abschnitten als Probanden ohne App.

Vorbeugen von Krankheiten

Viele Studienautoren sehen in der Prävention insbesondere von lebensstilbedingen Krankheiten wie Diabetes Typ 2 und Herzkreislauf-Erkrankungen ein großes Potenzial von QS-Anwendungen. Eigentlich logisch: Denn wer sich mit Schrittzähler oder Fitness-App mehr bewegt oder dank Ernährungstracking gesünder isst, senkt das Risiko für solche Krankheiten.   

EIn Mann joggt alleine im Park.
Durch Fitness-Uhren und Gesundheits-Apps steigt bei vielen die Motivation für sportliche Betätigung.

Zusammenhänge erkennen

Wie wirkt sich mein Alltag – was ich esse, wo ich mich aufhalte, wie oft ich mich bewege – auf meine Leistung, meinen Schlaf oder mein allgemeines Glücksgefühl aus? Wenn man sich auf Selftracking-Blogs umschaut, geht es vielen Trackern in erster Linie darum, solche Zusammenhänge zu erkennen. Wer feststellt, dass er nach Spaghetti Carbonara immer schlecht schläft, weiß dann jedenfalls, wo er ansetzen kann.

Welche Risiken birgt die digitale Selbstvermessung?

Die Chancen, die QS bietet, stehen und fallen mit verlässlichen Daten. Doch nicht nur mangelnde Datenqualität kann zum Problem werden. Hier die Risiken der digitalen Selbstvermessung im Überblick.

Unzureichende Qualität

Geräte und Apps, die als Medizinprodukte zugelassen sind, müssen bestimmte Auflagen erfüllen. Für alle anderen Anwendungen gilt das nicht; sie sind meist weder geprüft noch zertifiziert. Das äußert sich in teils ungenauen Messungen: „Tracker sind oft ungenau. Das ist egal, solange man gesund ist und es darum geht, wie viele Schritte man zurücklegt. Ob 9500 oder 10500 spielt keine Rolle“, sagt Soziologin und Mitautorin der Quantified-Self-Studie Ursula Meidert in einem Interview. Berechnet eine App hingegen die Insulindosis für einen Diabetiker falsch, wäre das fatal. Aber auch für gesunde Self-Tracker wird es problematisch, wenn Daten nicht wissenschaftlich ausgewertet werden und die App daraufhin falsche Empfehlungen oder Trainingspläne vorgibt.

Fehlinterpretation

Nicht immer liefert das Gerät eine ausreichende Analyse der Messdaten. Für Arne Tensfeldt, Mitbegründer der deutschen Quantified-Self-Bewegung, liegt eine Brisanz in der fehlenden Kompetenz, Daten richtig zu interpretieren. In einem Artikel für Digitaltrends LfM über Wearables schreibt er: „Fehlt mir nicht an vielen Stellen wichtiges Grundlagenwissen, um ermittelte Werte entsprechend einordnen und bewerten zu können? Hier lauert das Risiko, vorschnell aus eigenen Daten mithilfe von „Doktor Google” falsche Schlüsse zu ziehen.“

Datenabhängigkeit

Das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) weist zudem auf eine potenzielle Datenabhängigkeit hin, bei der die subjektive Körperwahrnehmung verloren gehen oder im schlimmsten Fall eine Messsucht entstehen kann. Letztlich kann die exzessive Beschäftigung mit den eigenen Körperdaten in einem Leistungsdruck münden.

Eine Frau sitzt erschöpft vom Sport auf dem Asphalt und trägt einen Fitness-Tracker am Handgelenk.
Kann schnell auch zu viel werden: Digitale Selbstvermessung baut Leistungsdruck auf.

Begünstigt digitale Selbstvermessung Diskriminierung?

Noch ist es nur eine böse Vorahnung von Verbraucherschützern: Dass Selftracking-Daten in die Hände von Arbeitgebern, Banken und Versicherungen gelangen. Selbst wenn diese Daten anonymisiert sind, könnten sie mit öffentlich zugänglichen Personenangaben verknüpft und zum aufschlussreichen Persönlichkeitsprofil verdichtet werden. Damit ließe sich dann etwa die potenzielle Arbeitsproduktivität und Kreditwürdigkeit einstufen, womit all jene benachteiligt wären, die körperlich beeinträchtigt sind.

Wer Vorerkrankungen hat, zahlt bei Zusatzversicherungen schon heute mehr als Gesunde. Doch was ist, wenn auch die Basis-Krankenversicherer die Beitragshöhe danach berechnen, wieviel Schritte oder Tiefschlafphasen man auf seinem Selbstvermessungskonto hat? Schon jetzt sind Menschen, die keine „günstigen“ Fitness-Daten nachweisen können, im Nachteil. Die AOK PLUS etwa belohnt das Self-Tracking mit Bonuspunkten, wenn Mitglieder App-basiert nachweisen, dass sie täglich 10.000 Schritte gehen oder eine halbe Stunde Sport bei einer bestimmten Herzfrequenz absolvieren.

Sind meine Daten geschützt?

Die Gesellschaft für Informatik verweist auf etliche Risiken hinsichtlich Datensicherheit und Datenschutz bei der Nutzung von Gesundheits-Apps. Das Problem: Nur selten ist es möglich, Daten lokal auf dem Messgerät zu verarbeiten und zu speichern. Selbst Wearables müssen sich meist mit einem Smartphone oder Tablet verbinden, wo die Daten in einer App verarbeitet werden. Danach gelangen die Daten in der Regel auch auf die Server der Anbieter. Und diese befinden sich selten hierzulande, sondern oft in Asien und in den USA, wo aus europäischer Sicht kein angemessenes Datenschutzniveau besteht.

Frau sitzt auf dem Bürgersteig und kontrolliert mittels digitaler Selbstvermessung ihre Fitnessdaten auf Smartphone und Fitnessuhr.
Ohne Smartphone geht es meist nicht – die Daten müssen von einem Wearable erst übertragen werden.

Mit der seit 2018 geltenden EU-Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) sollen EU-Bürger besser vor Datenmissbrauch geschützt werden. An die Verordnung müssen sich auch außereuropäische Anbieter halten, wenn sie in der EU personenbezogene Daten über Apps und Wearables erheben und verarbeiten. Grundsätzlich gilt laut Advocard, dass personenbezogene Daten ohne Zustimmung nicht an Dritte weitergegeben werden dürfen. Dass Daten nur gespeichert und verarbeitet werden dürfen, wenn der Nutzer aktiv zugestimmt hat und dass eine Datenverarbeitung nur zweckgebunden erfolgen darf. Zudem können Nutzer ihre personenbezogenen Daten unter bestimmten Voraussetzungen löschen lassen oder deren Verarbeitung einschränken.

Tipp: Die Verbraucherzentrale hat auf ihrer Webseite alle wichtigen Regelungen der EU-Datenschutzverordnungen erläutert und stellt Musterbriefe bereit, mit denen Anwender ihre Rechte – etwa auf Datenlöschung und Widerruf – geltend machen können.

Wie erkennt man vertrauenswürdige Selbstvermessungs-Apps?

Bei der riesigen Auswahl an Apps ist es gar nicht so einfach herauszufinden, ob eine App qualitativ hochwertig und datenschutzkonform ist. Links liegen lassen sollte man Apps, deren Anbieter sich erkennbar datenschutzwidrig verhalten. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn keine Einwilligung zur Datenverarbeitung eingeholt wird und die Weitergabe und Nutzung der Daten intransparent gestaltet sind. Prüfen Sie zudem, welche Zugriffsrechte Apps verlangen. Zum Beispiel ist es nicht nachvollziehbar, warum eine Fitness-App Zugriff auf die Kontakte haben sollte.

Tipp: Nähere Informationen zu den Zugriffsrechten finden sich unter anderen in diesem Beitrag aus der „Computerwoche“.

Was die Qualität betrifft, lohnt es sich nachzuforschen, wer hinter dem jeweiligen Angebot steckt. Eine App muss immer ein Impressum mit Angaben zum Hersteller aufweisen. Empfehlenswert sind Apps, die in Zusammenarbeit mit Kliniken oder Fachgesellschaften entwickelt wurden oder von Krankenkassen angeboten werden. Wichtig ist, dass man auf medizinisch zertifizierte Anwendungen zurückgreift, sobald es um die Diagnose oder Behandlung von Krankheiten geht.

Wer sich nicht auf sein eigenes Gefühl bei der Auswahl von Gesundheits-Apps verlassen möchte, kann sich zum Beispiel bei HealthOn umschauen. Die Plattform prüft Gesundheits- und Medizin-Apps und vergibt ein Siegel, wenn sie den Qualitäts- und Transparenzkriterien des „HealthOn-App Ehrenkodex“ entsprechen. Und die TK Techniker Krankenkasse bietet ein interaktives Tool, mit dem sich die Qualität und Vertrauenswürdigkeit von Gesundheits-Apps bewerten lässt.

 

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